Zurück ins Netz

I come from Cyberspace, the new home of Mind

heißt es in der Declaration of the Independence of Cyberspace, die EFF-Mitgründer John Perry Barlow 1996 veröffentlichte. Der Dotcom-Boom der 90er-Jahre hatte da gerade erst begonnen und das Netz galt noch als jener verheißungsvolle Nichtort, der sich außerhalb der Reichweite der „weary giants of flesh and steel“ befinden sollte. Und in der Tat bezeichnete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel das Internet mehr als anderthalb Jahrzehnte später, kurz nach Bekanntwerden der Existenz des US-Überwachungsprogramms PRISM, als „Neuland“. Man unterschied also dies und jenseits des digital divide zwischen „alter“ und „neuer“ Welt.

Das Netz in den 20ern

In den gut zehn Jahren seit Merkels „Neuland“ sind die Grenzen zwischen diesen beiden Welten immer weiter verwischt. Längst hat das Digitale (nicht zuletzt aufgrund der inzwischen fast alle Lebensbereiche bestimmenden Omnipräsenz des Smartphones) sich wie eine zweite Schicht über die „alte Welt“ gelegt und ist heute eng mit ihr verzahnt. Wer sich der Digitalisierung entzieht (oder es versucht), wird auch IRL abgehängt.

Umgekehrt sind mittlerweile aber auch die abgekämpften Giganten der Kohlenstoffwelt aus ihrer Starre erwacht und haben damit begonnen, den, wie es früher einmal hieß, „rechtsfreien Raum“ Internet einzuhegen. Von der anarchischen Freiheit, die dem Web einmal innewohnte, ist heute vielerorts nicht mehr viel zu spüren. Auch deshalb, weil die großen Social-Media-Dienste, die in der Blütezeit des Web 2.0 groß wurden, inzwischen zu Werbeplattformen verfallen sind, die ihre Nutzer*innen mit schmutzigen Tricks an sich binden.

Der Traum vom jeder und jedem zugänglichen, globalen Wissensspeicher scheint ausgeträumt. Wikipedia und das Web Archive sind mit die letzten Kolosse jener alten Zeit. Wer sich im Netz mit anderen austauschen, mit Freunden und Familie in Kontakt bleiben möchte, der unterwirft sich dafür meist den Regeln kommerzieller Plattformen und quetscht die eigenen Gedanken, Aphorismen und Gefühle ins enge Korsett aus Werbung und Engagement-Spam.

Das ist nicht das Web, das wir verdienen.

Und nun?

Der Zusammenbruch des ehemaligen Microblogging-Dienstes Twitter nach Übernahme durch Elon Musk steht sinnbildlich für die Ausdrücke Platform Decay und Enshittification. Bei keinem anderen Service ließ sich der Verfall in derartiger Geschwindigkeit mitverfolgen. Als Durchlauferhitzer des Internets hatte Twitter sich im Laufe von anderthalb Jahrzehnten eine Position als essenzielles Kommunikationstool der digitalen Gesellschaft erarbeitet. Nirgendwo sonst ließen Nachrichten sich so schnell und effizient verfolgen; nirgendwo sonst war man als Nutzer*in so nah dran an den Statements wichtiger Politiker*innen und hatte zeitweilig sogar das Gefühl, in eine Art Dialog mit ihnen treten zu können. Heute ist X.com, wie Twitter mittlerweile heißt, eine von AI-Slop und -Ads verstopfte Spamschleuder mit angeschlossenem Pyramidensystem. Mit dem offenen Web hat das nicht mehr viel zu tun. Statt die Verlinkung nach außen zu fördern, versuchen X und andere Plattformen, die Nutzer*innen so lange wie möglich im eigenen Ökosystem festzuhalten.

Renaissance

Doch speziell der Zusammenbruch von X hat auch das offene, dezentrale Web wiederbelebt. Vor allem das „Fediverse“, ein Zusammenschluss interoperabler Netzwerke, entwickelt sich seitdem sehr aktiv weiter. Anil Dash diagnostiziert zum Beispiel im Januar 2024: „The Web Renaissance takes off“ und Molly White beschreibt in ihrem Vortrag beim diesjährigen XOXO-Festival, dass sie „now more than ever“ die Begeisterung und das „excitement“ verspüre, die das Web in ihrer Jugend in den 2000ern in ihr geweckt habe. Und auch Dave Winer ist auf seinem Blog scripting.com (das gerade 30(!) Jahre alt geworden ist), optimistisch, dass das offene Web mit zunehmender Interoperabilität unterschiedlicher Plattformen wieder an Bedeutung gewinnen wird.

Offenes Netz

Auch ich bin weiter davon überzeugt, dass offenen Standards und Netzen die Zukunft gehört. Das Web ist aufgrund seiner dezentralen Struktur so populär geworden. Dank dieser Offenheit konnten Plattformen wie Facebook, X/Twitter oder YouTube überhaupt ihre heutige Größe erreichen. Doch um Geld zu verdienen, ziehen die Plattformen Mauern um ihre Angebote – in den allermeisten Fällen zum massiven Nachteil der Nutzer*innen. Gerade für Kreative, die auf YouTube, Instagram oder TikTok Geld verdienen, ist das kritisch.

Im offenen Netz ist absolutes Deplatforming nicht mehr ohne Weiteres möglich. Eine Website, die ich selbst betreibe, kann mir nicht einfach genommen werden. Die großen Plattformen versprechen den User*innen dafür, dass sie ihnen mehr Engagement, Klicks und Werbeeinblendungen (hurra!) liefern können als das offene Web. Dass die Plattformbetreiber dabei aber großzügig den Rahm abschöpfen und nur die wenigsten Kreativen aus ihrer Arbeit auf den Plattformen nennenswerte Gewinne erzielen können, sagen Alphabet (Google, YouTube), Meta (Facebook, Instagram) und ByteDance (TikTok) natürlich nicht dazu. Wer weiß, vielleicht wäre es für das Gros der Content Creator also sinnvoller, sich ihre eigenen Plattformen zu schaffen?

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